Wie kann man nicht über, sondern mit den Menschen für die Zukunft forschen ?
Herausfinden, welche Bedürfnisse tatsächlich
wichtig sind, wie den technischen Fortschritt fördern, ohne dass soziale und ethische Komponenten auf der Strecke bleiben ?
Mit den kommenden demografischen, sozialen
und ökonomischen Herausforderungen der Gesellschaft befasst sich das Institut für Zukunftsfragen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft der EHD seit 2010. Dabei geht es immer auch um die Verzahnung und den Wissenstransfer von Praxis und Wissenschaft.
Unbeobachtet bleibt an diesem Ort nichts. Die Wände sind aus Glas. Jeder, der vorbei läuft, kann Prof. Dr. Michael Vilain und seinem Team bei der Arbeit zusehen. Und vorbei kommen Tausende täglich – auf dem Weg etwa vom Europaviertel zu den Zuggleisen. Das Institut für Zukunftsfragen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft der EHD (IZGS) hat seine Räume im zweiten Stock des Querbahnsteiges am Darmstädter Hauptbahnhof. Die Wissenschaftler/innen sitzen quasi im Glashaus, aber mittendrin im Alltag der Menschen. Das gefällt Michael Vilain, denn um die Menschen dreht sich schließlich die Forschung seines Institutes.
Wie beeinflussen gesellschaftliche, wirtschaftliche oder technische Veränderungen das Leben, vor allem auch der älteren Generation? Welche neuen Lösungsansätze, Perspektiven oder innovativen
Konzepte lassen sich gemeinsam mit Wohlfahrtsverbänden, mit Partnern aus Wirtschaft, Politik oder Verwaltung finden? Diesen Fragen gehen der Instituts- Direktor Prof. Vilain und seine Kolleg/inn/en nach, seit das IZGS 2010 gegründet wurde. Es war das erste Binneninstitut, das sich an der EHD formierte. Die Initiative dazu ging von der Medizinerin und Pflegewissenschaftlerin Prof. Kerstin Wessig und Prof. Vilain aus, der sich seit vielen Jahren mit dem Thema Sozialmanagement, Wohlfahrtsverbände und Non-Profit-Organisationen beschäftigt. Der 48-jährige gebürtige Südafrikaner ist seit langem selbst ehrenamtlich aktiv. »Oft habe ich gemerkt, es fehlt an den richtigen Werkzeugen, den passenden Konzepten für die Arbeit. Etwa für die Steuerung von Non-Profit-Organisationen. Wie können solche, nicht am Gewinn, sondern an gesellschaftlichen oder sozialen Fragen ausgerichteten Unternehmen wirtschaftlich erfolgreich bestehen? Studiengänge für Non-Profit-Management gibt es zahlreiche, »aber kaum Forschung dazu«, sagt Prof. Vilain. Das IZGS ist eines der wenigen Institute bundesweit, die sich damit befassen und sie kriegen Anfragen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum.
»Früh haben wir uns für die Verzahnung von Praxis und Theorie, entschieden«, betont der Instituts-Chef. In allenProjekten des IZGS sind Praktiker vertreten und bestimmen mit. »Wir sitzen dauernd mit dem eigenen
Forschungsobjekt an einem Tisch. Das kann manchmal super anstrengend sein«, lacht er. Praxis und Wissenschaft stehen in permanentem Austausch und Wissenstransfer.
»Wir machen keine Forschung im Elfenbeinturm «, betont der Professor. Der Bezug zum Menschen, zum Alltag ist ihm wichtig. »Oftmals ist die Praxis weiter als die Wissenschaft. Dann müssen wir umdenken, neu anfangen.« Wie bei der Schulung von Senioren und Seniorinnen am Tablet. Die extra für sie entwickelte Computer-Oberfläche nutzte die ältere Generation nicht, sie waren vor allem an WhatsApp oder Skype interessiert. Daraus hat das Team von IZGS gelernt, Zielgruppen gleich von Beginn an in Forschungsprojekte reinzuholen. »Wir müssen nicht Produkte und Dienste für, sondern mit den Menschen zusammen entwickeln.«
Wie lässt sich die Versorgung älterer Menschen in ländlichen Regionen verbessern, wie eine Heimunterbringung verhindern? Wie kann man dafür Kommunen und Wohlfahrtsverbände zusammen bringen? Welche Alltagshilfen brauchen die Menschen, welche Netzwerke sind wichtig? Die Themen gehen dem Instituts-Team nie aus. Sie entwickeln eigene Forschungsansätze oder werden für Projekte oder Beratung von Institutionen, Kommunen oder Verbänden angefragt. Es gibt drei Schwerpunkte: Die Zivilgesellschaft und das Ehrenamt, Digitale Transformation in der Wohlfahrtspflege und die Leitung und Managementforschung. Meist arbeitet das Institut an 14 bis 15 Projekten gleichzeitig. Die Finanzierung läuft komplett über Drittmittel.
Die Evangelische Hochschule stellt die Räume. Techniker/innen, Ingenieurwissenschaftler/ innen, Betriebswirte/ innen oder auch
Pflegewissenschaftler/innen arbeiten zusammen. »Wir forschen stets interdisziplinär «, so der 48-Jährige. Oftmals muss dafür erst eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Definition gefunden werden, »denn der Techniker meint mit dem Wort Ressource etwas ganz anderes als die Pflegewissenschaftlerin«. Doch dieser Perspektivwechsel, die Suche nach Gemeinsamkeiten sind das Spannende und setzen sich innerhalb der Projekte fort. So befasst sich das IZGS etwa mit der Idee von Gesundheitszentren und Telemedizin. Was für Berufstätige eine Option ist, passt für ältere Menschen, für die der Arztbesuch persönliche Ansprache bedeutet, gar nicht. Der Kühlschrank, der
Lebensmittel online bestellt? Für alte Menschen nutzlos. »Da ist oft der Einkauf das Highlight der Woche«, so Vilain.
Der Mensch und seine Bedürfnisse müssen im Mittelpunkt stehen, ob es um technischen Fortschritt, Digitalisierung oder sozialen und gesellschaftlichen Wandel geht. »Wir müssen die soziale Komponente einbringen. Wenn es nur ums Ökonomische geht, scheitert Technik, scheitern Produkte und Konzepte«, ist er überzeugt. Und wer, wenn nicht die Evangelische Hochschule könnte das in ihrer Forschung glaubhafter erkunden. »Es ist unsere Rolle, zwischen diesen Polen zu vermitteln«, sagt Prof. Vilain. In Vorträgen und Fortbildungen bundesweit sowie in Vorlesungen an der EHD geben er und sein Team ihr Wissen weiter. Der jährliche »Social Talk« an der EHD ist immer ausgebucht.»Wir lernen jeden Tag dazu, passen unsere Vorgehensweise an, denken neu.« Eine Flexibilität, die Prof. Vilain schätzt und die an der EHD möglich sei. »Es gibt hier eine Toleranz fürs Umdenken und das ist eine große Leistung.«
Text: Astrid Ludwig