Kommentar
bürgerAktiv, Ausgabe September, 01.09.2020
Michael Vilain ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und geschäftsführender Direktor des Instituts für Zukunftsfragen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft (IZGS) der Evangelischen Hochschule Darmstadt. Der Experte für den Non-Profit-Bereich kritisiert die zunehmende Regulierung der Zivilgesellschaft. Wir haben ihn dazu befragt.
bürgerAktiv: Herr Vilain, wie würden Sie beschreiben, wie der Staat die Zivilgesellschaft reguliert?
Michael Vilain: Wenn ich mir das Verhältnis vom Staat zur Zivilgesellschaft anschaue, kann ich durchaus erkennen, dass da Dinge passieren, die wir eher in Osteuropa erwarten würden. Wir erleben hier zwar keine Form gezielter Unterdrückung, aber doch einer zunehmenden Gängelung.
bürgerAktiv: Das sind drastische Worte. Ist dieser Vergleich wirklich angemessen?
Vilain: Ich glaube, dass wir es in Osteuropa, in Ungarn zum Beispiel, mit einem strategischen Vorgehen gegen die Zivilgesellschaft zu tun haben. Das haben wir in Deutschland nicht. Aber wir können im Ergebnis ähnliche Effekte sehen. Indem wir unreflektiert fördern und regulieren, gängeln wir die Zivilgesellschaft letztlich auch sehr stark, ohne dass es den autoritären Hintergrund gibt, den wir in Osteuropa teilweise vorfinden.
bürgerAktiv: Können Sie Beispiele für diese „unreflektierte Regulierung” nennen? Vilain: Ich glaube, das fängt damit an, dass wir eine überbordende Verrechtlichung in Teilen der Zivilgesellschaft erleben. Eine Jugendfreizeit, die früher spontan organisiert werden konnte, ist heute mit erheblichen rechtlichen Auflagen in Bezug auf Jugendschutz, Hygiene und Sicherheit verbunden. Jede Regelung für sich mag sinnvoll sein, in der Summe kommt es aber zu einer massiven Einschränkung von Freiheitsgraden. Schnelles, direktes Handeln, eine Stärke der Zivilgesellschaft, ist kaum noch möglich. Das jüngste Beispiel ist die Datenschutzgrundverordnung, die den kleinen Sportverein um die Ecke wie den mit Daten handelnden Internet-Konzern behandelt.
bürgerAktiv: Wie hätte man das besser machen können?
Vilain: Das Handelsgesetz beispielsweise kennt größenabhängige Abstufungen. Erhebliche Teile der Zivilgesellschaft sind klein und selbstorganisiert. Die strengen Datenschutzrichtlinien brachten viele Vereine an den Rand des Abgrundes. Die Verunsicherung war so groß, dass etliche sich nicht einmal mehr trauten ihre Mitglieder anzuschreiben. Das brachte die Arbeit fast zum Stillstand. Größenabhängige Ausnahmeregelungen wären da sinnvoll.
bürgerAktiv: Können Sie weitere Beispiele für die „Gängelung“ nennen, die Sie angesprochen haben?
Vilain: Das Steuerrecht ist auch ein großer Sorgenbereich. Es ist so komplex geworden, dass auch kleine Vereine teils schon strafrechtliche Tatbestände erfüllen, ohne es zu wissen oder nur zu ahnen. Schwierig ist auch die bisweilen willkürlich anmutende Aberkennung der Gemeinnützigkeit, wie im Falle von Attac.
bürgerAktiv: Das sind jetzt Beispiele für eine Regulierung der Zivilgesellschaft. Sie sagen aber, dass auch eine unreflektierte Förderung zu einer Gängelung führt. Was meinen Sie damit? Fördermittel helfen Vereinen, Verbänden und Stiftungen doch.
Vilain: Die fördernden Eingriffe sind ja zunächst auch zu begrüßen. Aber in der Menge und in der Ausformung, wie wir sie heute vorfinden, schaffen sie paternalistische Strukturen. Wenn Zivilgesellschaft nur unter Anbindung an kommunale Strukturen, an Ministerien, an Ämter und Behörden gefördert wird, dann muss ich davon ausgehen, dass das keine interessenlose Förderung ist.
bürgerAktiv: Können Sie Beispiele nennen?
Vilain: Ein Großteil der Freiwilligenagenturen und anderer zivilgesellschaftlicher Strukturen wie Mehrgenerationenhäuser wird heute überwiegend staatlich finanziert. Das hat erheblichen Einfluss auf die Partnerschaften und Kooperationen vor Ort. Ein weiteres Beispiel ist die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt, die kürzlich gegründet wurde. Da werden Verwaltungsstellen geschaffen, um dann wieder aus einer Verwaltungssicht heraus zu definieren, was Zivilgesellschaft ist und was nicht und welche Strukturen gefördert werden. Kritische Teile der Zivilgesellschaft haben es da schwer.
bürgerAktiv: Niemand zwingt zivilgesellschaftliche Organisationen, Fördergelder anzunehmen. Wer nicht will, dass ihm oder ihr von staatlicher Seite reingeredet wird, kann ja auf das Geld verzichten. Wo ist also das Problem?
Vilain: Es gibt ja auch Vereine, Greenpeace beispielsweise, die keine staatlichen Mittel annehmen, um ihre zivilgesellschaftliche Authentizität und Unabhängigkeit zu erhalten. Wenn aber Organisationen mit bestimmten Aufgaben und Themen aufgrund politischer Wünsche einseitig staatlich gefördert werden, dominiert deren Lesart die Öffentlichkeit. Rein spendenbasierte Organisationen können da aufgrund des meist geringeren Finanzvolumens kaum noch durchdringen. Zivilgesellschaft behandelt so nicht die eigenen Themen, sondern verstärkt solche, die politisch gerade Konjunktur haben.
bürgerAktiv: Sie haben gesagt, dass Sie nicht annehmen, dass in Deutschland eine Strategie hinter diesen Maßnahmen steckt. Wie kommt es dann zu diesen Ergebnissen?
Vilain: Wahrscheinlich schätzt der Staat das Engagement und möchte es fördern, hat aber auch eine Vorstellung davon, was gutes und was schlechtes Engagement ist. Und so kanalisiert er Mittel automatisch in eine Richtung. Möglicherweise entsteht daraus eine Eigendynamik. Ich glaube aber nicht, dass da eine geheime Agenda dahinter steckt.
bürgerAktiv: Ist es nicht ganz normal, dass der Staat die Zivilgesellschaft ein Stück weit reguliert und entscheidet, wen er unterstützt und wen nicht?
Vilain: Es wäre tatsächlich naiv zu glauben, dass Zivilgesellschaft immer nur die Guten sind. Wir haben am linken und am rechten Rand auch Teile der Zivilgesellschaft, mit denen ich nicht in einem Boot sitzen will. Das heißt, es gibt schon den Bedarf nach Regulierung. Aber die Logik, die sich verselbstständigt hat, ist eine, die sagt, dass eine Behörde oder ein Amt, besser wissen, was das Gemeinwohl ist, als die Menschen selbst. Dieser ist dann auch zentral zu organisieren. Das ist der Wirkmechanismus, der erklärt, warum wir solche Entwicklungen sehen.
bürgerAktiv: Was könnte ein Ausweg aus dieser Situation sein?
Vilain: Wir haben einfach zu wenige Finanzierungsoptionen für die Zivilgesellschaft. Die originäre Finanzierungsform ist ja die Spende. Das reicht aber in einem Land wie Deutschland nicht, wo wir eine so hohe Steuerquote haben. Wenn man wirklich die Unabhängigkeit der Zivilgesellschaft bewahren will, muss man auch über die Ressourcenfrage nachdenken. Es muss eine Form der Ressourcengewinnung geben, die unabhängig von Wirtschaft und Staat Mittel einspielt. Ich glaube, ohne dieses Thema kommen wir nicht weiter. Denn das Gängelband ist die Ressourcenfrage.
bürgerAktiv: Wie könnte so eine alternative Finanzierungsoption aussehen?
Vilain: Es gibt verschiedene Modelle. Eine Ein-Prozent-Steuer ist ja schon länger im Gespräch: Ein Prozent der Steuerlast des Bürgers geht nicht an den Staat, sondern kann als Spende einer beliebigen Organisation, die man unterstützen möchte, zugehen. Man könnte auch andere Anreize schaffen. Zum Beispiel, dass Events, die für gemeinnützige Zwecke organisiert werden, steuerbegünstigt sind und nicht als wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb gewertet werden. Jetzt kann man sagen: Die verkaufen Würstchen und der Metzger nebenan muss das ja auch versteuern. Aber es gibt einen zentralen Unterschied: Der Metzger behält das Geld. Die Nonprofit-Organisation hingegen darf das Geld nur für satzungsgemäße Zwecke verwenden und führt das Geld wieder der Gemeinschaft zu.
bürgerAktiv: Wie sollte sich das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft zueinander weiterentwickeln?
Vilain: Was Zivilgesellschaft angeht, haben wir das Subsidiaritätsprinzip vergessen, das besagt, dass eine Aufgabe von der kleinsten zuständigen Einheit übernommen werden soll. Übergeordnete Einheiten, in diesem Fall der Staat, sollen nur dann eingreifen, wenn es die unteren Einheiten nicht können. Die Frage der Stärkung der Zivilgesellschaft hängt für mich ganz stark mit einer neuen Debatte über Subsidiarität zusammen.
bürgerAktiv: Und was würden Sie in einer solchen Debatte fordern?
Vilain: Der Staat müsste sich zurücknehmen, und einen Teil des Geldes, das er einnimmt, an die Zivilgesellschaft abtreten, zum Beispiel über einen Mechanismus wie die Ein-Prozent-Regel. Der Bürger ist die zentrale Handlungseinheit. Das was selbst organisiert werden kann, soll selbst organisiert werden, gegebenenfalls mit Hilfe der Kommune. Nur wenn das nicht klappt, ist der Staat gefragt. Was wir nicht brauchen: immer neue staatliche Strukturen zur Verwaltung der Zivilgesellschaft. Ich würde in Abwandlung des berühmten Zitats von Willy Brandt, sagen: „mehr Zivilgesellschaft wagen”.